„Dann bekommst du meine Niere“

Richard Kraus half seiner Schwester Edeltraud aus Dillingen. Dabei hat er Angst vor Stichen

Von Jakob Stader

Dillingen. Es war kurz nach Weihnachten 2014. „Meine Schwester war verzweifelt“, erzählt Richard Kraus. Dass Edeltraud Kraus eine Schrumpfniere hatte, das wusste sie schon lange. Seit zwei Jahren wusste sie auch von ihrer schweren Autoimmunerkrankung. Doch jetzt hatte sie erfahren, wie massiv diese ihre zweite Niere beschädigt hatte. Es werde auf eine Dialyse herauslaufen, das wurde ihr kurz zuvor im Dillinger Krankenhaus mitgeteilt. 

„Für mich ist eine Welt zusammengebrochen“, sagt die heute 56-Jährige. 

Blutwäsche ist der deutsche Begriff für das Verfahren. Weil die Niere den Körper nicht mehr entgiftet, muss der Patient das selbst tun. Damit sind massive Einschränkungen verbunden. Und eine verkürzte Lebenserwartung. Als sie nach Hause kam, war ihr ein Jahr jüngerer Bruder Richard, der in der Uckermark lebt, zu Besuch. Ob ihr irgendetwas helfen würde, fragte er. 

Ja, eine Transplantation. 

Doch bis sie oben auf der Warteliste stehen würde, bis sie die Niere eines Toten bekommen könnte, das würde acht bis zehn Jahre dauern. Richard Kraus reagierte.

„Ich habe aus dem Bauch heraus gesagt: Dann bekommst du meine.“ 

Tatsächlich ist es so gekommen. „Durch die Spenderniere habe ich die doppelte Lebenserwartung wie durch eine Dialyse“, sagt Edeltraud Kraus heute. Bis das Organ transplantiert werden konnte, mussten die beiden viele Hürden überwinden. In dieser Zeit war die Dillingerin auf die Dialyse angewiesen.

Erst nach einigen Monaten entschied sie, auf das Angebot ihres Bruders einzugehen. Für ihn war klar, dass er das Organ spenden würde. „Ich habe ein Dreivierteljahr lang jedes Mal geweint, wenn ich das erzählt habe“, sagt sie. Egal, ob die Niere von einem Toten oder einem Lebenden kommt – ohne in das Transplantationsregister aufgenommen zu werden, ist eine Operation nicht möglich. Deshalb musste Edeltraud Kraus über ein Jahr lang jeden Monat zu einem anderen Facharzt, um sich testen zu lassen. Als sie mit den Untersuchungen im April 2016 fertig war, begannen die Termine für ihren Bruder. „Die haben mich auf den Kopf gestellt“, sagt Richard Kraus. „Die wollen sicher sein, dass der Spender nicht krank wird. Das oberste Gebot ist, dass der gesund bleibt.“ Die Nierenentnahme selbst machte ihm keine Angst. „Ich fand das eher spannend.“ Mit Nadeln und Stichen hat er allerdings Probleme. „Die größte Herausforderung war immer das Blutabnehmen.“

Natürlich mussten die Ärzte überprüfen, ob die Niere überhaupt mit dem neuen Körper kompatibel ist. Die Geschwister haben die gleiche Blutgruppe, ein Test ergab, dass die Gewebeverträglichkeit in Ordnung ist. Zudem sind die beiden ähnlich alt, ähnlich groß und schlank. Für die Spende sind das die idealen Voraussetzungen.

Doktor Florian Sommer, der letztendlich die Operation leitete, erklärt, weshalb mittlerweile mehr als ein Viertel der Nierentransplantate von lebenden Spendern stammt. Das liege daran, dass zu wenig Organe von Toten verfügbar seien. Etwa 10 000 Menschen in Deutschland warten aktuell auf ein Organ. Im kompletten Jahr 2016 wurden aber nur 3350 Organe von Verstorbenen eingepflanzt. Dadurch entstehen die langen Wartezeiten. Eine Lebendspende ist die einzige Möglichkeit, schneller eine neue Niere zu erhalten. Bei den meisten anderen Organen ist das aber nicht möglich.

Der letzte Test für die Kraus-Geschwister war die Ethikkommission. Das Gremium, bestehend aus einem Internisten, einem Juristen und einer Psychologin, soll sicherstellen, dass die Organspende freiwillig ist. Und, dass kein Geld fließt oder Druck auf den Spender ausgeübt wird. 

Monatelang mussten die Geschwister auf einen Termin warten. So war es Ende 2016, als sie vor das Gremium traten. Große Sorgen hatten sie vor der Prüfung nicht. Edeltraud Kraus sagt: „Es gab bei uns ja keine Zweifel.“ Hätte es diese gegeben, das Gremium hätte sie entdeckt, da sind die beiden sicher. Die Kommission beriet sich etwa zehn Minuten und entschied, dass nichts gegen die Transplantation spreche. 

Die Operation sollte im Zentralklinikum in Augsburg stattfinden. Die Geschwister entschieden, die Operation so bald wie möglich anzusetzen – auch wenn das bedeutete, dass sie über Weihnachten in der Klinik sein würden.

Am 19. Dezember war es so weit. Richard Kraus kam als Erster in den OP, den Eingriff an seiner Schwester verschlief er daher. Edeltraud Kraus erinnert sich noch, was ihr der Anästhesist sagte, kurz bevor die Narkose einsetzte: „Ich habe gerade das Nierle gesehen von Ihrem Bruder. Ein schönes Nierle bekommen Sie da.“ Das Organ fing direkt nach der Operation an zu arbeiten. 

Vor der Transplantation hieß es, die 56-Jährige werde zwei bis drei Tage in der Intensivstation verbringen müssen. Tatsächlich konnte sie schon am nächsten Tag verlegt werden. 

Am Heiligen Abend kamen die vier Kinder und das Enkelkind von Edeltraud Kraus in die Klinik. Es war ein wirkliches Weihnachtsfest“, sagt sie. „Es gab einen Adventskranz, eine Krippe und Geschenke.“ Die Familie hatte eine Gitarre mitgebracht, und ihr Bruder, der sich nach der Operation schon wieder einigermaßen fit fühlte, spielte darauf. Auch in den Tagen darauf lief die Heilung besser als erwartet. „Ich war Silvester wieder zu Hause“, erzählt die Dillingerin.

Den Geschwistern steht nun ein Rehaaufenthalt bevor. Noch besteht die Gefahr, dass Edeltraud Kraus’ Körper das Organ abstößt. Sie muss sich weiter regelmäßig Blut abnehmen lassen, um zu überprüfen, dass die Niere so arbeitet, wie sie es soll. 

Auch ihr Bruder muss noch ein paar Mal zur Nachsorgeuntersuchung.

Später reicht es aus, sich einmal im Jahr untersuchen zu lassen. Natürlich habe das sein Leben etwas verändert, gibt er zu. Er weiß, dass er nur noch eine Niere hat. Da habe er schon mal den Gedanken: „Was, wenn die versagt?“ Auch in seiner Einstellung hat es eine Veränderung gegeben. Denn eigentlich hatte sich Richard Kraus schon einmal mit dem Thema Organspende auseinandergesetzt – und sich anders entschieden. Früher, da hatte er einen Organspendeausweis. Doch er entschied sich um, und gab den Ausweis ab. Er wollte nicht, dass nach seinem Tod an ihm herumgeschnitten wird, auch wegen der Skandale, die es in einigen Krankenhäusern gab. Heute sagt er, auch wenn es die schwarzen Schafe gibt: „Darunter darf nicht ein Großteil der Menschen leiden.“ Nach dem, was er erlebt hat, will er sich wieder einen Organspendeausweis holen.

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